Der grüne Zaubertrank, den Tom mitgebracht hatte, hatte vielleicht keine Wunder bewirkt es aber auch nicht schlimmer gemacht und so war Sabrina am kommenden Tag fit genug, um zum verrücktesten Tag unserer Reise aufzubrechen.
Wir trafen uns mit Alex, unserem Tourguide und der restlichen Reisegruppe, morgens auf dem Dorfplatz in San Christobal. Wir waren wahrscheinlich gespannter als vor manch anderer Tour auf unserer Reise, denn sie war unsere Hoffnung darauf, neben den vielen touristischen Orten, endlich ursprüngliche Kultur in Mexiko zu erleben. Besonders gespannt waren wir auf Chamula, denn dieses Städtchen gehört dem Volk der Tzotzil, den Ureinwohnern und Nachfahren der Maya. Unbeeindruckt von der Eroberung der Spanier, wird hier kein Spanisch gesprochen, sondern die Tzotzil-Sprache und man hält noch bis heute strikt an der traditionellen Kultur und Religion fest. Hier werden Schamanen aufgesucht, die durch Rülpsen schädliche Geister beschwören, die Besitz von einem Kranken befallen haben. Der Geist wird anschließend in ein Huhn umgeleitet, das getötet wird. Die Zeremonien werden in einer Kirche abgehalten, die als solche zwar von außen erkennbar ist, im Inneren finden sich aber Kiefernadeln und Reisig auf dem Boden anstatt Sitzbänken. Ja, wir fanden auch, dass das alles ziemlich schräg klingt… darum wollten wir uns das ja auch anschauen – aber nicht einfach so, sondern am wichtigsten Tag des Karnevals, wo es wohl noch etwas verrückter wurde. So viel aber erstmal zu den Hintergründen und für diejenigen, die sich schon mal gefragt haben, wonach wir eigentlich unsere Reiseziele aussuchen. Je authentischer, desto besser!
Aber lasst uns mit der Tour starten und zwar in einem kleinen Nachbardörfchen von Chamula: Zinacantán. Alex hatte uns bereits auf dem Weg dorthin ein bisschen was zu diesem Bergdorf erzählt und als wir ankamen, war es sofort zu sehen: die Bewohner trugen alle traditionelle Kleidung mit demselben Rosenmuster bestickt. Auf den Straßen war zudem ordentlich was los, denn auch hier war Karnevalstimmung.
Wir konnten gemeinsam mit Alex bei einer Familie vorbei schauen, die die Stoffe unter anderem für diese Kleidung webt. Da auch in diesem Dorf kein Spanisch gesprochen wird, übersetzte Alex für uns und führte uns durch die Herstellung der eindrucksvollen Muster. Er zeigte uns darüber hinaus Mais in 4 unterschiedlichen Farben, die wir so zuvor noch nie gesehen hatten: Gelb (kennen wir ja), in Schwarz, Rot und Weiß. Jede der Farben stand bereits für die Mayas für die Götter der unterschiedlichen Himmelsrichtungen. Der Gott des Nordens symbolisiert die Farbe Weiß und gleichzeitig die Weisheit, der Gott des Ostens ist der rote Gott, der Gott des Südens ist gelb und der Gott des Westens ist schwarz und steht auch für das Sterben der Sonne (den Sonnenuntergang). Grün steht für den Mittelpunkt, für Leben und Fruchtbarkeit und geht auf die Farbe der Jadesteine zurück, die für die Mayas wertvoller waren als Gold. Aus diesem Grund sind die meisten Kreuze, die wir bei unserem Spaziergang gesehen haben, ebenfalls grün angestrichen.
Apropos Kreuze: so ganz wurde der Eroberung durch die Spanier und der Missionarsarbeit nicht getrotzt. Die bereits erwähnte Kirche, zu der wir uns später aufmachen sollten, wurde ganz im christlichen Sinne gebaut, die Priester aber rausgeworfen (vielleicht sind sie auch freiwillig gegangen) und zusammen mit dem christlichen Glauben da adaptiert und mit der Spiritualität der Mayas zusammengebracht, wo es gepasst hat. Was übrig blieb ist ein Mix an vielen Heiligen und Göttern, die gleichberechtigt nebeneinander stehen.
Wir lauschten gespannt Alex, der so viel Interessantes zu erzählen hatte und Sabrinas Blick schweifte immer wieder zu einer ältere Damen ab, die wiederum die Gruppe auf ihrem Hof freundlich musterte. Ihre Gesichtszüge waren wahrscheinlich die herzlichsten, die sie je gesehen hatte. Alex meinte, dass – anders als in Chamula – das Fotografieren nicht verboten sei und es für die Familie in Ordnung sei, fotografiert zu werden. Sabrina wollte der Dame nicht sofort mit der Kamera auf den Leib rücken, konnte sie aber etwas später aus einer respektvolleren Entfernung einfangen.
Neben dieser wundervollen Begegnung, wurden wir auch noch ins Haus der Familie eingeladen, wo es traditionell selbstgemachte frische Tortillas gab, die mit gerösteten und gemahlenen Nussstreuseln gereicht wurden. Mit Abstand die besten Tortillas, die wir in Mexiko hatten!
Danach verabschiedeten wir uns von der Familie, aber natürlich nicht, bevor vor allem die älteren amerikanischen Pärchen ordentlich Tücher eingekauft hatten. Das soll gar nicht wertend klingen, denn in solchen Situation haben wir uns schon öfter gewünscht, doch ein bisschen mehr Platz in unseren Rucksäcken zu haben, weil solche handgefertigten Dinge unfassbar schön sind – aber vor allem weil uns bewusst ist, dass das meist das einzige ist, was die Familie für ihre Gastfreundschaft zurück bekommt.
Wir machten uns langsam auf den Weg zurück zum Minivan und wurden von Alex schon einmal etwas auf unseren nächsten Stopp in Chamula vorbereitet. Während die Menschen in Zinacantán wohl sehr aufgeschlossen, wenn auch zurückhaltend sind, fleißig und freundlich, hätten die Einwohner Chamulas wohl eine ganz andere Wirkung: sie tränken sehr viel, meinte Alex, und dass die einen Ruf als faule Raufbolde hätten. Na dann, kann‘s ja losgehen…
Eine kurze Fahrt später kamen wir an und liefen noch etwas mit Alex, um ins Stadtzentrum zu kommen.
Die staubigen Straßen waren voller Menschen, die extra zum Karneval angereist waren. Alex hatte uns schon vorher ausdrücklich gewarnt, dass wir die Kamera nur rausholen dürfen, wenn er es uns sagt. Die Einwohner reagieren wohl mitunter aggressiv und man bringt sich in Schwierigkeiten, wenn man dieses Gebot in Chamula missachtet. Das hat wohl zum einen den Grund, dass die Bewohner glauben, ihre Seelen würden auf Bildern eingeschlossen werden, zum anderen werden Kultur und Tradition vehement verteidigt und die Kamera als Eindringling empfunden. Spiritualität hat in einer realen fotografischen Abbildung eben nichts verloren und wir hielten uns daran. Bei den vielen intensiven Eindrücken wäre es ohnehin schwer gewesen zu fotografieren. Vor uns immer wieder Frauen, die Röcke aus schwarzem Fell um die Hüften gewickelt hatten. Desto länger das Fell, desto höher ist das Ansehen der Frau in der Gesellschaft, erklärte Alex. Die Männer in weißem Fell wiederum gehörten zu den Oberhäuptern der Stadt. Chamula verwaltet sich komplett selbst. Hier gibt es keine mexikanische Polizei, Recht und Ordnung werden selbst interpretiert und in die Hand genommen. Der letzte „Bürgermeister“, der nicht zum Wohle aller gehandelt, sondern sich die eigenen Taschen vollgemacht hatte, wurde übrigens von den Einwohnern auf dem Dorfplatz getötet. Während wir diese Geschichte verdauten, liefen wir weiter. Mit einem Karneval in Deutschland oder dem in Rio de Janeiro war das hier nicht zu vergleichen. Wir waren umgeben von Fellen, Stieren auf Ladeflächen und Coca Cola und Fanta Flaschen in allen Farben in den Händen der Menschen. Wenn kein Pox, also das Getränk der Mayas getrunken wurde, waren Softdrinks, deren Farben schließlich ebenfalls an die Götter der Himmelsrichtungen erinnerten, eine gute Alternative – und außerdem lässt es sich damit einfacher Rülpsen und Geister beschwören.
Wir waren am zentralen Platz angekommen und überquerten ihn, um zu besagter Kirche zu gelangen. Hier durften wir von außen ein paar Bilder machen, bevor die Kamera wieder in der Tasche verschwand, um die Kirche betreten zu dürfen.
Wir fanden uns auf dem rutschigen Reisigboden wieder, in einigen Abständen saßen Menschen auf dem Boden, manche tranken Alkohol, andere aßen, wiederum andere hatten Kerzen vor sich aufgestellt. Zeremonien fanden keine statt, denn der Karneval spielte sich draußen ab und sollte bald starten. An den Wänden ständen unzählige goldene Altäre, jeder repräsentierte einen anderen Heiligen und war übersäht mit Kerzen, deren Licht die Atmosphäre noch mystischer machte. Wir liefen langsam eine Runde an den Altären entlang und wurden kurz danach von Alex informiert, dass wir bevor das Spektakel draußen beginnen würde, noch einen Priester besuchen können. Priester kann hier übrigens jeder werden. Zu den Aufgaben gehören die Bewachung und Instandhaltung eines Alters eines Heiligen, die man außer in der Kirche verstreut in kleinen Häusern zwischen den Wohnhäusern in ganz Chamula findet. Dazu kommt wohl noch die ein oder andere Verantwortung in und um die Kirche. Man wird übrigens zum Priester gewählt und übernimmt das Amt für ein Jahr. Geld verdient man dabei keines, aber unglaublich viel Ansehen – zudem wird man von den Frauen bekocht und von den Männern gibt es Opfergaben in Form von Alkohol. Das haben wir ziemlich schnell festgestellt, denn der Priester, der uns Eintritt gewährte hatte schon ordentlich einen im Tee und Schwierigkeiten damit, geradeaus zu laufen. Er war trotzdem sehr engagiert darin uns alles zu zeigen und zu erklären, während Alex sein bestes gab, es für uns ins Englische zu übersetzen. Dann war es höchste Zeit wieder auf den großen Platz zurück zu kehren, denn das Spektakel sollte beginnen. Die Gassen waren nun noch voller und wir schlängelten uns durch, um direkt auf dem Platz ganz nahe dabei sein zu können. Über den Köpfen der anderen hinweg, sahen wir viele rote Spitze Hüte herausstechen. Plötzlich wurde die Menge unruhig und das Stroh, das in einer langen Bahn auf dem Boden ausgelegt worden war, wurde angezündet. Die roten Hüte bewegten sich, anfänglich langsam, dann immer schneller. Es war Gebrüll zu hören und wir konnten immer wieder die nackten Füße sehen, die über das brennende Stroh hüpften und rannten.
Als das Stroh abgebrannt war, wurde es ziemlich hektisch. Alex fragte, ob wir sehen wollten, wie die Stiere durch den Ort getrieben werden. Natürlich wollten wir das. Er brachte uns zurück auf die Terrasse des Priesters, von der aus man einen Teil des Platzes überschauen konnte. Er meinte, es wären in den letzten Jahren immer wieder Stiere ausgebüxt und hätten Menschen verletzt, daher wollte er uns in Sicherheit wissen. Das war uns ganz recht. Auf der Terrasse hatten sich noch mehr Bewohner versammelt, unter anderem Oberhäupter von Chamula. Wir fragten Alex, ob wir ein Bild von hier oben machen könnten, er wiederum leitete die Frage an einen der Herren im weißen Fell weiter, der ein klares Nein zur Antwort gab. Schade, denn wir hätten uns das Geschehen gerne aus dem Teleobjektiv der Kamera angeschaut, von hier oben konnten man die Stiere nur erahnen.
Nach einiger Zeit verabschiedeten wir uns von der Terrasse und machten einen zügigen und großen Umweg durch schmale Gassen, um zum Minivan zurück zu kehren, der außerhalb der Stadt geparkt und auf uns gewartet hatte. Wir hielten auf dem Berg einige Male an, um die Aussicht auf die Stadt nochmals zu bestaunen. Hier hatten sich mehrere tausend Menschen versammelt, die sich als bunte Punkte zwischen den Häusern, auf den Dächern, auf dem Platz und vor der Kirche abzeichneten. Das wäre ein tolles Foto gewesen, aber auch das mussten wir in Erinnerung behalten. Eine Erinnerung, die sicherlich an das Goroka Festival in Papua Neuguinea rankam. Die letzten Stunden waren ganz schön verrückt gewesen.
Und so ließen wir die Eindrücke Revue passieren, als wir mit dem Minivan zurück nach San Christobal fuhren. Es war unser letzter Abend und den kommenden Tag sollten wir gänzlich im Bus verbringen, um die längste Strecke in Mexiko auf einmal zurück zu legen. Dieses Mal ging es nicht ans Meer, sondern an eine wunderschöne Lagune und erneut in eine Airbnb, die für einige (böse) Überraschungen sorgte. Davon aber im nächsten Artikel mehr.
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